Projektbeschreibung

Hans Kelsen (1881–1973), im k.u.k.-Österreich-Ungarn geborener und 1933 von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertriebener Wissenschaftler jüdischer Herkunft, der im US-amerikanischen Exil seine neue Heimat fand, gehört im globalen Maßstab auch mehr als 40 Jahre nach seinem Tod zu den meistdiskutierten Rechtstheoretikern. Er zählt zu den ganz wenigen Rechtswissenschaftlern, die außerhalb ihres muttersprachlichen, nämlich deutschsprachigen Kreises weltweit Anerkennung gefunden haben und den rechtswissenschaftlichen Diskurs sowohl in Ost- als auch Südeuropa, sowohl in Ostasien als auch in Lateinamerika nachhaltig und selbst in der Anglosphere mehr als nur vernachlässigbar beeinflusst haben.

Sein skeptisch-konsequenter Rechtspositivismus, die ›Reine Rechtslehre‹, zielt darauf, eine möglichst exakte Deskription und Strukturanalyse moderner Rechtsordnungen zu geben und damit die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Recht konsequent von dessen Erzeugung und Fortbildung zu trennen. In diesem ›Entzauberungs‹-Bestreben erweist er sich als ein bekennender Verfechter der Wissenschaftlichen Moderne. Auch seine Biographie – jüdische Abstammung, Vertreibung aus Deutschland und Exil in den USA (bzw. im Vereinigten Königreich) – stellt ihn in eine Reihe mit anderen Protagonisten wie dem Physiker Albert Einstein (1879–1955) und den anderen Wienern, dem Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856–1939), den Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und (Sir) Karl R. Popper (1902–1994), sowie seinem Klassenkameraden, dem Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises (1881–1973).

Es ist kein Zufall, dass der liberale Rechtspositivist Kelsen, der beim Aufbau der Ersten Republik zunächst Verfassungsberater des ersten österreichischen Staatskanzlers, des Sozialdemokraten Karl Renner (1870–1950), und sodann eine der Führungsfiguren des neuen Verfassungsgerichtshofes war, eine pluralistische Demokratietheorie entwarf, die auf Heterogenität antwortet und nicht auf Homogenität baut, die den politischen Parteien einen legitimen Entfaltungsraum öffnet und die die Systemverträglichkeit einer mit Normenkontrollbefugnissen ausgestatteten Verfassungsgerichtsbarkeit in einer freiheitlichen Demokratie nachweist.

Kelsen hat über mehr als sechs Dekaden, in wechselnden politischen Systemen, zu unterschiedlichen Rechtsordnungen und in zahlreichen Sprachen publiziert. Sein immens ausgreifendes Gesamt­œuvre umfasst neben den rund 18.000 Druckseiten starken Originalpublikationen den im Hans Kelsen-Institut (HKI), einer noch zu Lebzeiten Kelsens gegründeten österreichischen Bundesstiftung mit Sitz in Wien, aufbewahrten und gepflegten wissenschaftliche Nachlass.

Ungeachtet seiner weltweiten Bedeutung fehlt es an einer Ausgabe seiner verstreut und in vielen Sprachen erschienenen opera omnia. Mit den ›Hans Kelsen Werke(n)‹ wird das Gesamtœuvre Kelsens in einer historisch-kritischen Hybridedition zugänglich gemacht. In Zusammenarbeit mit dem HKI werden sämtliche Werke Kelsens in chronologischer Reihung und in der Sprache ihrer (Erst-)Pub­likation historisch-kritisch ediert. Dadurch werden Kelsens Schriften aus den Bereichen der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie, des Verfassungsrechts und des Völkerrechts, der Staats- und Verfassungstheorie, der Politischen Theorie und der Sozialanthropologie in ihrem jeweiligen Entstehungszusammenhang erschlossen und zugleich in ihrer Bedeutung für das Gesamtwerk erkennbar. Mit der historisch-kritischen Hybridedition von Kelsens Werken betritt die Rechtswissenschaft weithin Neuland.