Wörter schreiben Geschichte – Max Vasmer (1886–1962) und die Wörterbücher des Russischen

Buchcover des Russisch-Deutschen Wörterbuches (Harrassowitz Verlag, Wiesbaden)

Im Russischen bedeutet das Wort ›schreiben‹ – ›pisat’‹ – auch ›malen‹. So rücken bildlicher und sprachlicher Ausdruck in der (Sprach-)Geschichte zusammen.

Historisch führt die zweifache Bedeutung von ›schreiben‹ und ›malen‹ bis ins Indoeuropäische zurück und findet Parallelen in litauisch ›piẽšti‹ ›mit Kohlen Linien ziehen, zeichnen, malen schreiben‹ oder altindisch ›piṁc̨átiv‹ ›schmückt, ziert gestaltet, schneidet zurecht‹. Diese Information findet sich im Russischen Etymologischen Wörterbuch (1953–1958) des bedeutenden Slavisten Max Vasmer (1886–1962), der 1931 in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden war und nach seiner Rückkehr aus Stockholm und der Berufung an die Freie Universität Berlin im Jahr 1949 auch Mitglied der Mainzer Akademie wurde.

An ihr begründete Vasmer das Russische Geographische Namenbuch (1964–1989), das später sein Schüler Herbert Bräuer (1921–1989) übernahm. Bis heute ist die Lexikologie und Lexikographie ein wichtiges Feld der slavischen Philologie an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Bereits Herbert Bräuer entwarf die Idee eines Russisch-Deutschen Wörterbuchs der Gegenwartssprache, das zunächst Fred Otten betreute, bis 1998 die Projektleitung Renate Belentschikow übertragen wurde.

Das seit 2003 im Auftrag der Mainzer Akademie im Harrassowitz Verlag herausgegebene Russisch-Deutsche Wörterbuch (RDW) umfasst bisher 16 Bände und wird 2025 abgeschlossen sein (parallel erscheint bereits eine zweite Auflage). Anders als das Russische Etymologische Wörterbuch Vasmers ist das RDW nicht historisch-vergleichend, sondern erschließt die ganze Breite russischer Texte von der klassischen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts bis hin zu belletristischen, publizistischen und Gebrauchstexten der Gegenwart. Es erfasst über den Kernwortschatz hinaus Historismen ebenso wie Neologismen der letzten drei Jahrzehnte, die zum Teil erstmals Eingang in ein russisch-deutsches Wörterbuch gefunden haben. Hinzu kommen Varietäten des Nonstandards bis hin zu Vulgarismen und tabuisierter Lexik. Das Wörterbuch enthält Sprichwörter und Redensarten, Abkürzungen, Fremdwörter und ausgewählte Eigennamen sowie Fachwörter aus verschiedenen Bereichen, die in der gemeinsprachlichen Kommunikation relevant sind.

Auch in der digitalen Gegenwart hat es aufgrund seiner ausdifferenzierten Semantik und der ausgewählten Beispielkonstruktionen seine Bedeutung nicht verloren. Dem Wort ›pisat’‹ ›schreiben, malen‹ sind allein 1½ Spalten mit 12 Bedeutungen und zugehörigen Kollokationen gewidmet. Typische Kollokationen sind ›pisat’ krasivo‹ ›schön schreiben‹ oder ›pisat’ maslom‹ ›in Öl malen‹, ausgefallen sind dagegen alle Bedeutungen, in denen das Schreiben und das Malen in leicht unkontrollierten Bewegungen zusammenfällt wie zum Beispiel ›pisat’ karakuljami‹ (ugs.) ›kritzeln, krakeln, schmieren‹ (mit der Metapher ›Persianerfell‹) oder ›pisat’ vavilony‹ (salopp veralt.) ›im Zickzack laufen, torkeln, hin und her schwanken (von Betrunkenen)‹, das metaphorisch die Sprachverwirrungen nach dem Turmbau zu Babel assoziiert.

So kann das Geschriebene auch das unverständlich Gemalte oder die unkontrollierte, in den Raum ›gezeichnete‹ Bewegung sein. Sprache ist dynamisch und Wörterbücher sind immer nur Momentaufnahmen dieser Dynamik, aber in der Auswahl der Kollokationen und der Bedeutungen können sie zeigen, wie Wörter in die Geschichte eingeschrieben sind und im Gebrauch (Sprach-)Geschichte schreiben.

(Renate Belentschikow, Holger Kuße)

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