SYMPTOME - Ursula Krechel

POESIE, PANDEMIE

Seit wir uns nicht mehr berühren, eine platonische Ebene, geglättet, etwas wird
kanalisiert, hängt dann lebenszitternd am Tropf. Seit der Atem entlangstreift am
hygienischen Stoff, seit wir uns nicht mehr berühren lassen von Bildern, seit wir
Bilder anhauchen und die Bildschirmfläche beschlägt, Fingerabdrücke auf dem
Empfinden, um Platz zu schaffen, seit wir, ja was?, seitdem können wir spüren, was
nicht fieberglänzend ist. Kontakt ist ein Akt, und die Furcht ist der große Bruder
der kleinen Angst. Eine Plexiglasscheibe trennt Wort von Wort, dann ein Gedankenstrich.
Solange wir nicht berühren, solange es nicht den Atem verschlägt,
getastet, getestet, aufgeatmet. Poesie des Tastens nach Theorien, Abstand,
Abgrund zwischen den Wörtern, denen die Krone gestutzt, Leerzeichen, für
die ein Beatmungsgerät reserviert. Auf Wiedersehen, weite Reise, auf Wiedersehen,
penible Planung, auf Wiedersehen, ihr reisenden Kinder und keine großen
Hochzeiten und Beerdigungen bitte. Seit wir uns nicht mehr berühren, verpixelte
Münder, Einbrüche von Traurigkeit. Der gute Schriftsteller sagt nicht mehr, als er
denkt. Und darauf kommt viel an, schreibt Walter Benjamin. Auf der Habenseite
Erfahrung: zu was? Gedehnte Tage. Seit wir uns nur mit den Augen, seit wir nicht
mehr gelassen, lassen Worte Worte fallen, als würden sie Scheuklappen tragen.

Ursula Krechel

(seit 2013 Mitglied der Klasse der Literatur und der Musik, seit 2015 Vizepräsidentin der Akademie)

 © Ursula Krechel

 

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