SYMPTOME - Michael Krüger

AUF EIN JAHR, DAS GEHT

Nichts erfunden, einiges aufgeschrieben, viel gesehen,
die roten Lichter der Eibe zum Beispiel, dahinter die Buchen,
aufgereiht wie ein Lexikon, in dem die Vögel lesen;
die mühsame Eroberung der Bewegungslosigkeit;
warum meiden die Bienen das Heidekraut, können aber
nicht genug kriegen vom wilden Thymian? Ich weiss es
nicht, verspüre aber, trotz meiner Neigung zum Unvollendeten,
den Ehrgeiz, es zu wissen; den Charakter des Windes
bestimmen durch die Bewegung der Blätter der Birken;
wie man ein Huhn abkehlt und den Stock zum Heulen bringt,
wenn die Horoskope nicht stimmen; der kurze Moment,
den wir Geschichte nennen, ohne je eine Spur der Wirkung
zu zeigen; unzählige Traktate über Landschaftsmalerei,
die Zahl der Schüler ist immer grösser als die der Meister,
und dennoch: die Erregung einer ästhetischen Stimmung
durch die Darstellung landschaftlicher Natur bleibt;
wie das war mit dem Glauben, der tatsächlich Berge versetzt;
eine Art organische Unverträglichkeit mit der Angst,
das war neu; auch Monaden haben Fenster, ich muss lernen
sie zu öffnen: Immerwach und Nimmermüd, die Komplizen,
ihre Liebe zum Asozialen und ihr rhetorischer Pessimismus,
wenn es um Politik geht (oder um Zukunft ganz allgemein);
moralische Haltungen, die man ablehnt trotz besserer Einsicht;
warum redet man über Wahrheit hinter vorgehaltener Hand;
und immer wieder die Vögel, ihre gewaltige Kraft und
ihre Sorgfalt beim Picken, als läsen sie Gesetzestexte
in fremden Sprachen. Urteil und Verurteilung gehören dazu
wie die Spreu zum Weizen. Ein langes Jahr,
das mich, ohne Dünkel, nicht verstummen liess, Gott
sei Dank.

Michael Krüger (seit 1984 Mitglied der Klasse der Literatur und der Musik)

© Michael Krüger

 

Zurück zu ›SYMPTOME‹