SYMPTOME - Jan Wagner

de vita caroli quarti

                                »Herr, steht auf, der jüngste Tag bricht an,
                                  denn die ganze Welt ist voller Heuschrecken!«

wir ritten bis nach pulkau, um das ende
der welt nicht zu verpassen, und schon mittags
fiel nacht auf uns herab – als würde
alles was ist in einen sack gesteckt,
verschnürt. von fernher drang das fiepen
der glocken aus den dörfern zu uns durch.

ein lärm, der jedes selbstgespräch
erstickte, jedes stoßgebet, ein tosen,
ein schwarzer schneesturm, selbst als schon ein teil
gelandet war (wenngleich der himmel
nicht wiederkehrte) – wie das kratzen
von tausenden von federn auf papier,
ein rasendes skriptorium. die pferde,
bis zu den knien in insekten, wiehernd,
und diese selbst ein staunenswertes uhrwerk
dem hunger, eine gierige mechanik.
wir standen ratlos da,
jeder von uns geplündert wie ein rom.

ob da noch vögel waren? keine vögel,
kaum licht. und jedes schwein und jeder köter,
der sie zu fressen wagte, in sich aufnahm,
krepierte binnen stunden.

drei jahre wird es gehen.
drei jahre mit dem krachenden harsch
von flügeln unter den füßen und von panzern,
die ganze schöpfung gegen uns gerüstet,
ein lebendes kettenhemd auf jedem
feld, herr. sie vermehren sich des nachts
wie dunkle wünsche, unnatürliche
gedanken; wir erheben uns am morgen,
kahl wie die erde, wie geschändet, herr.

karl VI, genannt der wahnsinnige,
begibt sich zu bett

                             »... that they are all glass, and therefore will
                               not suffer no man to come near them ...«
                               Robert Burton, The Anatomy of Melancholy

einmal im garten flog
ein stieglitz gegen mich,
fiel tot zu boden. niemand sah,
wie ich den kleinen körper mit dem fuß
zum rhododendron schob,ich aber wußte.

nicht ballspiele noch hunde
in meiner nähe. dafür decken, viele,
und eisenringe, eingenäht
in meine kleidung. niemals wutausbrüche,
ich klirre nur ein bißchen. und ich wünschte
vor langen reisen mit der kutsche, selber
in eine jener kisten voller butter
sinken zu dürfen, sicher anzukommen
mit dem geschirr, dem porzellan.

zerbrechlich, sagen sie, zu sprunghaft
und leicht durchschaubar, aber wie denn nicht?
gedanken durchrieseln mich wie eine sanduhr.
morgens werde ich umgedreht,
und alles beginnt von neuem.

am tag, der kommen wird,
vom höchsten giebel des hôtel-saint-pol
hinab zum volk zu stürzen – splitter
für jede sohle frankreichs, eine spur
von blut und jammer
bis in die letzten winkel meines landes ...

ein hauch nur, isabelle,
von deinen lippen, schon beschlage ich.

Jan Wagner (seit 2010 Mitglied der Klasse der Literatur und der Musik)

© Jan Wagner

Eine der herrlichen Möglichkeiten, die sich dem Verfasser von Gedichten eröffnen,
ist es, eben nicht, wie so oft erwartet, ganz auf sich selbst und die eigenen Befindlichkeiten
konzentriert zu sein, sondern den Umweg des Rollengedichts zu wählen,
das heißt: mit den Augen einer erfundenen oder geschichtlichen Figur zu sehen, mit
ihren Sinnen sich der Welt zu nähern. Vielleicht laden gerade Krisenzeiten dazu
ein, das schwer zu Erfassende, nur mit Mühe zu Ertragende indirekt zu fassen zu
versuchen - jedenfalls entstanden beide Gedichte zu je einem historischen Karl zu
Seuchenzeiten und in einem Jahr mit wenigen Lichtblicken, auch ohne den Himmel
verdunkelnde Heuschreckenschwärme. Und auch ohne am Wahn zu leiden, aus
Glas zu bestehen - die Erfahrung der eigenen und der allgemeinen Fragilität macht
dieser Tage wohl jeder.
Jan Wagner

 

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