SYMPTOME - Jan Wagner Nr. 2

an wu daozi

                          für Horst Claussen

für eure bilder an den klosterwänden
berühmt – weil man die gischt von wasserfällen
zu spüren meint, ist man nicht ganz verroht
und stumpf. wo eben noch ein reiher stand,
sind es gezeitenwellen oder boren,
den teppich eines flusses aufzurollen; wo ein last-

tier, lama oder yak, den blauen ballast
von himmel trug, an steilen schieferwänden
vorbei, wird nun im schnee ein lamm geboren
als schnee und dampf. man kann im wald das fällen
der bäume hören, riecht auf seinem hochstand
die müdigkeit des jägers, zieht vom rot

der frühe bis zum ersten abendrot
durch eure ebenen, bis jede last
als nebel überm schilf steht, der verstand
sich selbst mißtraut, gegen sich selbst zu wenden
beginnt. genie sei in den meisten fällen
bloß handwerk, sagen sie, und angeboren

höchst selten. doch aus welchen farblaboren
käme ein kirsch-, ein scharlach-, karmesinrot
wie eures? und mit was für einfällen
schmückt ihr zu guter letzt selbst den palast
des kaisers, laßt auf dessen kalten wänden
die pflanzen wuchern, vögel, wildbestand,

während die zuschauer von jedem stand
dem pinsel folgen, euch mit fragen bohren,
mit lob verwirren oder einwänden,
fürs blau ein rosa fordern, gelb statt rot.
farben sind stumm, die menschen eine last,
ob sie mit seidenröcken oder fellen

bekleidet sind, ein weises urteil fällen
oder strohdumm sind. weshalb ihr mit anstand
die eine welt für eure welt verlaßt:
ihr geht aufs bild zu, an hochwohlgeboren
vorbei (sein yakfilet ist zart und rot),
als gelte es, details euch zuzuwenden,

verschwindet dann in wasserfällen, wänden,
und werdet selbst palast, haltet den bohrenden
blicken stand. zuletzt noch feucht: das rot.

Jan Wagner (seit 2010 Mitglied der Klasse der Literatur und der Musik)

© Jan Wagner

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