Projektbeschreibung

Die Festritualtexte sind die umfangreichste Gruppe von Keilschrifttexten aus dem hethitischen Anatolien. Sie bieten eine im Alten Orient einmalig dichte Dokumentation des Kultwesens und seiner Verwaltung.

Rekonstruktion und Erschließung dieses Textcorpus in Form von web-basierten Editionen sind Hauptziele des Vorhabens ›Corpus der hethitischen Festrituale‹ (HFR); ebenso die Untersuchung von paläographischen, linguistischen sowie religions- und verwaltungshistorischen Kernfragestellungen, die diese Textgruppe aufgibt.

Digitale Schlüsseltechnologien für Edition und Studium hethitischer Keilschrifttexte werden im Rahmen des Vorhabens weiterentwickelt. Mit seinen komplexen Fragestellungen, seinem editorischen Leistungsumfang und seiner innovativen Methodik markiert HFR einen Neuaufbruch in der hethitologischen Forschung.

Die Festritualtexte (derzeit über 10.000 Fragmente) sind knapp formulierte, oft aber umfangreiche Vorschriften für die Durchführung des Kultes außerhalb der täglichen Versorgung der Gottheiten zu bestimmten, oft jahreszeitlich festgelegten Anlässen. Das Corpus erstreckt sich über alle Perioden der hethitischen Geschichte und schließt alle für die historische Entwicklung der hethitischen Religion konstitutiven Traditionsstränge und Milieus ein.

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Linker Bildteil: Der Große Tempel in Hattusa. Deutsches Archäologisches Institut, Abt. Istanbul, Ausgrabung Hattusa. Rechter Bildteil: Das Fragment eines hethitischen Festrituals. AdW Mainz, Mainzer Photoarchiv.

Das Corpus der Festritualtexte stammt überwiegend – aber nicht ausschließlich – aus den Archiven der Hauptstadt Hattusa. Es ist Zeugnis einer staatlichen Kultverwaltung, deren Aufgabe es war, für das Königshaus die Observanz der Kultpflichten sicherzustellen; uns informiert es detailliert über den hethitischen Kult als eine religiöse Praxis mit hoher politischer, sozialer und ökonomischer Signifikanz. Dabei beleuchten die Texte nicht nur den Tempelkult der Hauptstadt zu unterschiedlichen Zeiten, sondern geben auch Auskunft über die Kulte in vielen anderen Städten des Reiches.

 
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Beispiel für die fragmentierte Handschrift eines Festritualtextes 176/c+(+): Eine aus zahlreichen direkt und indirekt zusammenschließenden Fragmenten teilrekonstruierte Tafel des KI.LAM-Festes (CTH 627.A). Links: Foto der Vorderseite von 176/c + 368/c + 498/c + 513/c + 1368/c (ohne 2537/c und indirekt anschließende Fragmente) (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, Mainzer Photoarchiv). Rechts: Skizze derselben Tafel einschließlich der indirekt anschließenden Fragmente (S. Koschak, Joinskizzen zu den hethitischen Texten).

Trotz zahlreicher Vorarbeiten stellen der gewaltige Umfang und die schwierige Überlieferungssituation der Texte sowie die starke Fragmentierung der handschriftlichen Quellen (Keilschrifttafeln) die Rekonstruktion und editorische Erschließung des Corpus der hethitischen Festrituale vor besondere Herausforderungen, die nur im Rahmen langfristiger, kooperativer Forschung und innerhalb einer auf das Vorhaben zugeschnittenen informationstechnischen Infrastruktur bewältigt werden können.

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Illustration zur digitalen Erfassung von Keilschrifttafeln. Schriftmetrologische Analyse von Schriftmerkmalen in 3D-Scans von Keilschrifttafeln im CuneiformAnalyser, einer Software, die im Rahmen eines interdisziplinären BMBF-Forschungsprojektes entwickelt wurde. CuneiformAnalyser unterstützt die Rekonstruktion stark fragmentierter Handschriften und die paläographische Analyse von Keilschrifttexten (Akademie Mainz, TU Dortmund, Universität Würzburg: http://www.cuneiform.de)

Im Zuge des Projekts werden Transliterationen aller Manuskripte von Festritualtexten in ein digitales, umfassend mit Metadaten annotiertes Basiscorpus eingegeben, das komplexe Recherchen in Hinblick sowohl auf die Manuskript- als auch auf die Textrekonstruktion erlaubt und zugleich Fragmente topisch erschließt, die noch nicht einem Einzeltext oder Textkomplex zuweisbar sind. Das Basiscorpus ist lemmatisiert, durch Glossare erschlossen und mit kombiniert recherchierbaren Metadaten versehen. Gemeinsam mit der digitalen Erfassung und schriftmetrologischen Analyse der Fragmente ist das Basiscorpus ein wesentliches Arbeitsinstrument für die Rekonstruktion von Manuskripten und ihre Zuordnung zu Texten.

Für 18 unter Berücksichtigung von Forschungsstand und Signifikanz ausgewählte Textkomplexe innerhalb des Corpus der Festrituale werden kritische Editionen erstellt. Darunter befinden sich u.a. die großen Reisefeste im Frühjahr und Herbst, das ki.lam-Fest, die Rituale für Huwassanna sowie die lokalen Kulte von Arinna, Nerik und Zippalanda.

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Beispiel für die web-basierte Edition eines hethitischen Ritualtextes. Der Text und seine Überlieferung sind in synoptischer Darstellung der einzelnen Handschriften sowie in einem nach syntaktischen Kola gegliederten Master-Text im Internet zugänglich. Durch Anklicken der Exemplarbezeichnungen A und D öffnen sich Transliterationen der Textexemplare. Jedes Wort ist lemmatisiert und mit entsprechenden Glossaren verlinkt.

Wie das annotierte Basiscorpus sind auch die kritischen Editionen als web-basierte, kontinuierlich wachsende, open access-Publikationen im Rahmen der digitalen Infrastruktur des Hethitologie-Portals Mainz (HPM) konzipiert. Die kritischen Editionen umfassen Einleitungen, synoptische Umschriften von Duplikathandschriften einschließlich einer Transkription als 'Master-Text', Übersetzungen, epigraphische und philologische Anmerkungen sowie Verknüpfungen zu den Fotos einzelner Manuskripte im Mainzer Photoarchiv. Als informationstechnisches Rückgrat von Basiscorpus und Editionen dienen die Verzeichnisse der Konkordanz der hethitischen Keilschrifttafeln (mit Catalogue des textes hittites) des HPM, die im Rahmen von HFR weiterentwickelt werden.

Das primäre Publikationsmedium für Basiscorpus und Editionen ist das World Wide Web im Rahmen der HPM-Infrastruktur. Alle Texte sind durch ein Druckansicht-Instrument im print on demand-Verfahren abrufbar. Editionen mit Master-Text, Übersetzung, Einleitungen und einem auf inhaltliche Varianten beschränkten Apparat werden in vier Bänden ›Hethitische Festrituale‹ (HFr 1–4) als Druckwerke vorgelegt werden. Ebenfalls als Druckwerke publiziert werden übergreifende thematische Studien zur Paläographie, Sprache und Religions- und Verwaltungsgeschichte der hethitischen Festrituale sowie die im Rahmen von HFR entstandenen Dissertationen und Symposiumsakten.

HFR ist auf eine Gesamtlaufzeit von 21 Jahren angelegt (2016–36). Das Projekt ist in drei Arbeitsstellen gegliedert und an der Mainzer Akademie (Hethitologie-Archiv) sowie den Universitäten Marburg und (ab 2019) Würzburg angesiedelt.