SYMPTOME - Stefan Pohlit

ANKUNFT AUF BÜYÜKADA

Das Muh des Schiffshorns schmiegte sich in das Zetern der Möwen und das kalte
Säuseln des Windes. Cemil fiel wie ein Anker auf die Knie. Vor ihm der Ort seiner
Verbannung: die nach Süden hin verlängerten Höhenkämme mit der Ruine des grie-
chischen Waisenhauses in der Mitte; der zerklüftete Landstreif der Goldzunge, der
vor Heybeliada in die Meerenge stieß; und die Siedlung, die mit ihren Gärten und
Palästchen über den nördlichen, zum Meer hin abflachenden Waldhang rutschte.
In der Triantafyllidis-Villa am Ufer hatte einst Trotzki gewohnt, im Hotel Splendid
Palas über der Hafeneinfahrt Atatürk getanzt und gesoffen. Allein der Klostergipfel
steckte mit seinen zweihundert Metern im Dunst. Da oben, in der Kapelle zwischen
den Wolken, hing eine silberne Ikone des Drachentöters Áyios Yéoryios. Berichte
über ihre Heilkräfte gehörten zu jenen Legenden, die man bei Tatyos’ Trinkgelagen
zu Rakı und Fisch auftischte. 1204 sollen sie die Mönche vor den Franken so gut
versteckt haben, dass sie erst zur Zeit Ahmets III. wieder ans Licht kam. Es heißt,
ein ahnungsloser Schäfer habe sie auf seiner Weide ausgegraben, als aus dem Erd-
reich lauter Zimbeln und Schellen tönten. Daher verehrten die Orthodoxen ihren
Schutzpatron mit dem Beinamen Koudoúnas – Heiliger Georg von der Glocke. Die Tür-
ken sahen in ihm den Grünen Mann Hıdır, der nur den Sufis erscheint, und scheuten
sich nicht, ihn ihren eigenen Frühlingsweihen einzuverleiben. Jedes Jahr am 23. April
öffnete das Patriarchat die Grotte, wo geologische Druckwellen eine Quelle speis-
ten. Dann zog halb Istanbul hinauf, um am Pilgerweg die Bäume mit Garn zu be-
hängen und im Innern des Bergs um Wunder zu flehen. Nicht einmal Platon selbst
hätte Cemil überredet, sich ihnen anzuschließen – sprich: sich »wie ein Schäfchen
in der dummen Herde aufzulösen«. »Du, Künstler«, dachte Cemil, »verkehrst auf
Augenhöhe mit der Welt; suchst in ihren Spiegelungen wieder und wieder nur Dein
eigenes Bild!« Sobald er sich an dieses Reich der Schatten gewöhnt hätte, würde
die Insel wie die Rose Attars erblühen und er, »Nachtigall«, zu jedem Mauerzug, zu
jedem Winkel des Waldes »ich« sagen – ein verhinderter Rebell wie Leon Trotzki;
überflüssig gar, aber geheiligt im Narzissmus seiner Tragik! Dass ihn seine Irrfahrt
noch vor dem nächsten Winter in den Erhabenen Gipfel enthöbe; dass er seinen
Verstand opfern, sterben und wieder auferstehen müsste, wusste er nicht.

Auszug aus dem 1. Kapitel meines Romans ›Münzevi Adası ‹ (wörtlich: »Insel der
Eremiten«), der 2021 in eigener Übersetzung auf Türkisch erscheint. Mein Lektor war der
Istanbuler Schriftsteller Gün Zileli, über den neben dem Lockdown aus Altersgründen auch
eine Ausgangssperre verhängt ist. Stefan Pohlit, März 2021

Der Schriftsteller Stefan Pohlit gehört seit 2020 der Jungen Akademie | Mainz an.

© Stefan Pohlit

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