Immanuel Kant – ein Mystiker?
, Rubriken: 75 Jahre – Themen aus der Akademie

Die deutsche Erstübersetzung einer alten ›dissertatio philosophica‹ zeigt den Klassiker der Aufklärung in neuem Licht.
Im gleichen Jahr 2024, in dem wir das 75-jährige Jubiläum der Gründung der Mainzer Akademie feiern, begeht man allerorten auch den 300. Geburtstag des Königsberger Weltweisen: Immanuel Kant gilt, nach wie vor und völlig zu Recht, als der klassische Denker der Aufklärung, der es bis heute auf die Zeitungstitelseiten einer verdüsterten Gegenwart schafft, die sich von der Strahlkraft seiner Philosophie Orientierung verspricht und Hilfe erhofft: Wie geht Frieden, Immanuel Kant? fragte die ZEIT gleich zu Jahresbeginn.
Der von Kant programmatisch eingeforderte »Mut«, sich des »eigenen Verstandes zu bedienen«, sichert ihm in der Konsequenz nicht allein die philosophischen Patentrechte am Begriff der Autonomie, sondern scheint auf den ersten Blick auch bestens zu seinem erkenntniskritischen Verdikt über alle möglichen Gottesbeweise der traditionellen Metaphysik zu passen, das ihm den berühmt-berüchtigten Beinamen eines »Alleszermalmers« einbrachte. Und doch bliebe Kant verkannt, wollte man ihm in dieser Tendenz lediglich eine Kritik der Religion zuschreiben. Mit einer Religion der Kritik, die zwar durchaus nicht als Fundament, doch sehr wohl als Resultat von des Menschen Moralität und Freiheit zu gelten hat, war Kants aufgeklärtes Selbstverständnis kompatibel, ja seine ›Kritik der praktischen Vernunft erklärt ausdrücklich: »ich will, daß ein Gott […] sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen«.
Dessen ungeachtet muss es auf den ersten Blick verwundern, wenn in der renommierten Reihe der ›Kant-Forschungen‹ im Felix Meiner Verlag ein kürzlich erschienener Band nun auch nur die titelgebende Frage stellt, ob am Ende gar »Kant als Mystiker?« verstanden werden könne. Denn ein wie auch immer gearteter Versuch, Kant mit Mystik in Verbindung zu bringen, scheint auch bei einer Kants reinem Vernunftglauben gegenüber aufgeschlossenen Lektüre seiner Schriften zum zwangsläufigen Scheitern verurteilt: Zu zahlreich sind die Zurückweisungen, zu dezidiert die Distanznahmen, zu polemisch die Absagen, die Kant aller arroganten »Schwärmerei« erteilt, der er nämlich die engen Grenzen möglicher Erfahrung unkritisch ins Transzendente zu überfliegen vorwirft.
Die These, mit der 1797 ein gewisser Carl Arnold Wilmans (1772-1848) in Halle an der Saale zum Magister und Doktor der Philosophie promoviert wurde, hätte also kühner kaum sein können: Er behauptete nämlich eine latente Ähnlichkeit und heimliche Nähe zwischen Kants kritisch-aufgeklärter Religionsphilosophie einerseits und einer separatistischen Sonderform von reinem Mystizismus andererseits, die er im persönlichen Umfeld des Quäkertums kennengelernt hatte: »diese Leute würden (verzeihen Sie mir den Ausdruck!) wahre Kantianer sein, wenn sie Philosophen wären«, schrieb er in einem an Kant persönlich adressierten Begleitbrief zu seiner Dissertation. Dieser zitierte im ›Streit der Fakultäten‹ ausführlich aus dem Sendschreiben, das ihn von Wilmans erreicht hatte, und übergab dessen »gewagte Behauptungen« seinem Schüler und späteren Biographen Reinhold Bernhard Jachmann (1767-1843) zur eingehenden Prüfung.
Als diese 1800 publizierte ›Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism‹ negativ ausfiel, geriet Wilmans’ These nach und nach in Vergessenheit und fand allenfalls als Zufallsfund aus dem Kuriositätenkabinett der Philosophiegeschichte noch gelegentliche Erwähnung. Erst zu Wilmans’ 250. Geburtstag ist der Text nun neu herausgegeben, erstmals vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt und mit einem ausführlichen Kommentar versehen worden, in dem seine These von der Ähnlichkeit zwischen Kants Religionsphilosophie und einer reinen Mystik nicht nur historisch kontextualisiert, sondern im Zuge einer Relektüre von Kants Phänomenologie des Gewissens auch revidiert und systematisch revalidiert wird.
Nun kann man nicht mehr nur Kants Kritik der Mystik kennen, sondern auch Kants Mystik der Kritik.
(Christian Rößner)
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