Grammatische Muster in Verschwörungstheorien
, Rubriken: 75 Jahre – Themen aus der Akademie




In Verschwörungstheorien werden spezifische grammatische Muster gebraucht, um uns von einer »alternativen Wahrheit« zu überzeugen.
Elvis lebt, die Erde ist eigentlich flach, Covid-19 ist in einem von Bill Gates finanzierten Labor erzeugt worden, Regierungen lassen sogenannte Chemtrails versprühen, um die Bevölkerung zu kontrollieren… Verschwörungstheorien stellen ein gesellschaftlich verbreitetes sowie mitunter politisch brisantes Phänomen unserer Zeit dar, wobei sie insbesondere während der Corona-Pandemie große mediale Aufmerksamkeit erregt haben. Spannend aus linguistischer Sicht ist, dass Verschwörungstheorien durch sprachliche Mittel konstruiert werden und sie sich in den sozialen Medien Gehör verschaffen. In einem DFG-Projekt, das ich gemeinsam mit meinem Kollegen David Römer leite, untersuchen wir deshalb den Gebrauch und die Funktionsweisen von Sprache in Verschwörungstheorien.
In den Blick geraten dabei unter anderem lexikalische Einheiten, metaphorische und argumentative Strategien, aber auch grammatische Strukturen, die in verschwörungstheoretischen Texten wiederkehrend Verwendung finden, um kollektive Wissensbestände infrage zu stellen und im Gegenzug das »Sonder- bzw. Spezialwissen« der Verschwörungstheorie zu plausibilisieren. Die Analysen fußen dabei auf im Projekt zusammengestellten Textsammlungen zu Verschwörungstheorien über Corona, Klimawandel, Ukraine-Krieg, »Umvolkung«, den Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt sowie Gender und Diversität.
Ein grammatischer Zugang zu den Textkorpora offenbart, dass Negationselemente wie »nicht« und »kein« überdurchschnittlich häufig in Verschwörungstheorien vorkommen. Die Technik des Negierens stellt ein einfaches grammatisches Verfahren dar, um Erzählstränge oder Erklärungen der offiziellen Version zu verneinen bzw. diese mittels Negation abzustreiten. Ein grammatisches Muster, das beispielsweise in verschwörungstheoretischen Texten zum menschengemachten Klimawandel sowie zum Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt besonders frequent auftritt, ist die Negationskonstruktion »es gibt kein X« (z. B. »es gibt keinen Zusammenhang zwischen CO2 und Lufttemperatur«, »es gibt keine dramatischen Abschmelzungen«, »es gibt kein Blut«, »es gibt keine Verletzten«), mit deren Gebrauch spezifische Funktionen verbunden sind.
Der Konstruktion – bestehend aus dem unpersönlichen Pronomen »es«, dem Existenzverb »geben« sowie einer indefiniten Nominalphrase im Akkusativ mit einleitendem Negationsartikel »kein« – kommt eine Perspektivierungsleistung zu. Durch sie wird die verschwörungstheoretische Sicht auf die Dinge zum Ausdruck gebracht, und zwar in der Form, dass die Schreiber:innen an der sprachlichen Oberfläche nicht in Erscheinung treten (müssen) (im Gegensatz zu solchen Formulierungen wie »Ich finde, am LKW ist kein Blut zu sehen«). Der getätigten Aussage wird somit ein (scheinbar) objektiver Status zugewiesen. Die Konstruktion steuert zudem die Aufmerksamkeit, indem auf doppelte Weise eine Fokussierung der Entität stattfindet, deren Existenz in der Nominalphrase verneint wird: zum einen durch den festen Prädikatsausdruck »es gibt«, zum anderen durch den Negationsartikel »kein«. Bemerkenswert ist auch, dass die Konstruktion in Verschwörungstheorien häufig in argumentativen Kontexten eingesetzt wird. So dient sie mitunter dem Topos der fehlenden Beweise und somit dem Abstreiten und Leugnen von Beweismitteln, die in der offiziellen Version vorgelegt werden und die auf den menschengemachten Klimawandel (»globale Erwärmung«, »Treibhauseffekt«, »genaue wissenschaftliche Studien« usw.) bzw. einen Terroranschlag (»Verletzte«, »Opfer«, »Videoaufnahmen« usw.) hindeuten. Die Füllelemente der Nominalphrase sind semantisch also nicht willkürlich gewählt, sondern sie stehen im Dienst der verschwörungstheoretischen Argumentation.
Die Negationskonstruktion »es gibt kein X« stellt auf vielfältige Weise eine grammatische Ressource in verschwörungstheoretischer Kommunikation dar. Grammatik ist somit an der Prägung von Gesellschaft sowie der Konstruktion und Aushandlung von Wissen beteiligt.
(Sören Stumpf)
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PD Dr.
Sören
Stumpf
Ludwig-Maximilians-Universität München
Deutsche Philologie
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