Das Kafka-Projekt
, Rubriken: 75 Jahre – Themen aus der Akademie

Vor fünfzig Jahren nahm ich mir vor, einige kurze Geschichten in der Art von Franz Kafka zu schreiben.
Im Herbst 2023 bot ich dem Wallstein-Verlag ein Manuskript mit folgendem Titel und Exposee an:
Thomas Lehr: Kafkas Schere.
Exposee
»Ausgehend von Franz Kafkas großmeisterlichem Vorbild, sind Thomas Lehrs Miniaturen entstanden, als Variationen und Hommage, als Ergänzung und Erweiterung des Spektrums superber Alpträume und humorvoll-grotesker Visionen. Ganze Tage werden hier ohne Kopf verbracht, die sensible Schere setzt an, die den Menschen von Gott und vom Tier trennt. Mythische Sagengestalten treffen auf bizarre Zivilisationen aus anderen Galaxien, aberwitzige Fortpflanzungstechniken zeitigen haarsträubende Ergebnisse. Vom grimmigen Regime im Turm zu Babel bis zum Post-Orwell’schen Überwachungsstaat ist der Weg nicht weit in diesen auf äußerste Knappheit gebrachten sprachlichen Vexierbildern, die Thomas Lehr angesammelt hat, Miniaturen aus dem ersten Viertel des 21. Jahrhunderts.«
In der Tat erscheinen all diese merkwürdigen Begebenheiten in dem bloß achtzig Seiten umfassenden Bändchen, und ich war und bin es zufrieden, dass ich mich mit dem im Frühjahr 2024 erschienenen Buch pünktlich zu Kafkas 100. Todesjahr vor dem Meister verbeugen konnte.
Die Vorgeschichte des Bändchens ist allerdings lang und kompliziert. Vor fünfzig Jahren etwa, als sechzehnjähriger Gymnasiast, begegnete ich in meinem Schullesebuch zum ersten Mal einigen kurzen Geschichten Franz Kafkas. Ich glaube, es waren die Texte »Auf der Galerie« und »Die kaiserliche Botschaft«. Die Faszination ergriff mich sofort und ich dachte: »Wie kann man nur mit so wenig Zeilen so viel ausrichten!« Ich wollte mehr von diesen Texten sehen und fand in der Stadtbibliothek einen Auswahlband mit Kafka‘schen Erzählungen, den ich sofort verschlang, um in der Folge auch den ersten Durchgang durch die Romane »Der Prozess«, »Das Schloss« und »Der Verschollene« zu machen.
Bei aller Bewunderung für die bizarren, alptraumhaften, jedoch auch oft slapstickartig komischen und grotesk heiteren Romane beschäftigten mich die kurzen Kafka‘schen Texte doch weiterhin am stärksten. Mich packte der Impuls, mehr von diesen Geschöpfen in die Welt zu bringen, mehr von diesen denkenden Dachsen, grübelnden Affen, blasphemischen Krähen und seltsamen Artisten aufs Papier zu bannen – und ich schrieb sogleich drei oder vier Erzählungen, ganz im Kafka-Style, wie ich damals glaubte. Glücklicherweise sind diese Frühwerke komplett verschollen.
Als ich dann, mit Mitte zwanzig, beschloss, Schriftsteller zu werden, las ich etliche große Autoren sehr genau und penibel, um von ihnen das Handwerk zu lernen. So kam es auch zum zweiten Durchgang durch das Kafka’sche Werk und zum zweiten Versuch, einige Geschichten in der Manier des Meisters zu schreiben. Für das vollständige Verschwinden auch dieser Versuche habe ich dann bewusst gesorgt.
Im Jahre 2002 jedoch, mittlerweile war ich älter geworden als Kafka leben durfte, unternahm ich die dritte Wanderung durch Kafkas Werk. Und endlich gelang mir die Erzählung »Die Babylonischen Maulwürfe«. Ich nahm mir vor, gleich noch ein paar dieser Variationen aufs Papier zu werfen – und siehe da, es dauerte nur zweiundzwanzig Jahre, schon hatte ich zehn davon zusammen.
»Was wir Weg nennen, ist Zögern.« (Franz Kafka)
(Thomas Lehr)