image/svg+xml Nee, noch nicht, lohnt sich das? Marcel Marcel Das hat ja schon fast 3 Mio Klicks! Ich schaue es mir gleichmal an. Marcel Ich hab's mir jetzt mal angesehen. Rezo sagt da, dass Expert*innen mehrheitlich nicht von Verschwörungstheorien, sondern von "Verschwörungsglaube" sprechen, stimmt das wirklich? Hey, habt ihr schon das neue Video von Rezo über Medien & Verschwörungstheorien gesehen? https://www.youtube.com/watch?v=hkncijUZGKA Esra Ja, auf jeden Fall. Ich habs schon gesehen. 👍 Ja, stimmt, was er sagt. Viele Personen fordern zurzeit, dass man "Verschwörungstheorie" nicht verwenden sollte. Marcel Warum sollte "Verschwörungsglaube" der bessere Begriff sein? Ich kenne in diesem Zusammenhang nur das Wort Verschwörungstheorie. Marcel Widersprechen sich die Argumente nicht? 🙃 Ja, sie widersprechen sich in der Tat. So wird zum einen gesagt, dass der Terminus stigmatisierend wirkt und als Waffe“ gegen Meinungen, die einem selbst nicht passen, eingesetzt werde. Gleichzeitig wird aber auch gesagt, dass eingefleischte Verschwörungstheoretiker das Wort lieben“ und es als Selbstbezeichnung verwenden (www.watson.de/deutschland/analyse/720825632-coronademos-hildmann-naidoo-verschwoerungstheorie-ist-das-falsche-wort), um ihren Erzählungen einen wissenschaftlichen Anklang zu verleihen. Dies steht im Widerspruch mit dem Gebrauch des Wortes als Stigmawort. Stigmawörter können nicht selbstreferentiell verwendet werden. Außerdem berücksichtigen beide Kritikpunkte auch nicht, dass es eine strikte Trennung zwischen dem Gebrauch von Verschwörungstheorie als wissenschaftlichen Terminus, also als Terminus Technicus, und dem umgangssprachlichen Gebrauch gibt. Wenn man sich wissenschaftlich mit Verschwörungstheorien beschäftigt, so ist es gang und gäbe, die für die eigene Forschung relevanten Termini zu definieren und nachvollziehbar darzulegen, was man unter bestimmten Termini versteht. Dies wird selbstverständlich auch mit dem Terminus Verschwörungstheorien gemacht. Esra Das kann ich nachvollziehen, wenn jemand im Alltag von 'dramatisch' oder 'romantisch' spricht, bezieht er sich ja auch nicht auf die literaturwissenschaftliche Großgattung Dramatik oder die Epoche Romantik. 😉 Genau, aber nur, weil ein Wort in der Alltagssprache eine gewisse Konnotation besitzt, heißt das noch lange nicht, dass es für wissenschaftliche Zwecke unbrauchbar ist. Esra Aber hat die Wissenschaft nicht auch die Aufgabe klare Begrifflichkeiten zu entwickeln, die auch im Alltag Verwendung finden können? (Stichwort "Elfenbeinturm"). DWDS-Wortverlaufskurve für „Verschwörungstheorie“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/r/plot?view=1&corpus=zeitungen&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=1&prune=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1946%3A2019&q1=Verschw%C3%B6rungstheorie>, abgerufen am 6/17/2020. Schaut mal hier. Man kann sich mit dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) anzeigen lassen, wie der Gebrauch des Wortes "Verschwörungstheorie" von 1946 bis heute zugenommen hat. Und man sieht hier auch ganz schön, mit welchen anderen Wörtern der Ausdruck gehäuft auftritt. Finde das voll spannend! Marcel Aber das Wort "Theorie" hat ja schon den klaren Bezug zur Wissenschaft, oder? Ja, schon, aber dann solte man auch nicht unter den Tisch fallen lassen, dass das Wort Theorie keineswegs nur die Bedeutung ,System wissenschaftlich begründeter Aussagen zur Erklärung bestimmter Tatsachen oder Erscheinungen und der ihnen zugrunde liegenden Gesetzlichkeiten‘, sondern auch die Bedeutung, wirklichkeitsfremde Vorstellung; bloße Vermutung‘ (www.duden.de/rechtschreibung/Theorie) bzw. ,abstrakte Gedanken und Vorstellungen, deren Bezug zur Realität nicht evident ist oder bezweifelt wird‘ (www.dwds.de/wb/Theorie) besitzt. Als Verwendungsbeispiele führt das DWDS übrigens die Sätze „in seinem Kopf spuken seltsame Theorien“ und „er hat sich in merkwürdige Theorien verstiegen“. Bei diesem Gebrauch von Theorie handelt es sich also exakt um die Bedeutung, die auch in dem Wort Verschwörungstheorie zum Ausdruck kommt. Marcel Der Begriff "Erzählung", der in diesen Kontexten ja auch gebraucht wird, ist vielleicht weniger stigmatisierend?! Wer schreibt? Zoe mit Esra, Marcel, Chantal, Juan, fünf Wissenschaftler:innen aus ganz verschiedenen Diziplinen(Geschichte, Informatik, Sprach-, Sozial- und Literaturwissenschaften).Worum geht's? Verschwörungstheorien und Wissenschaft Esra Naja, das sind ja keine richtigen Theorien, also keine wissenschaftlichen und falsifizierbaren Erkenntnisse, sondern mehr der Glaube daran, dass irgendwelche 'bösen Gruppen' Politik und Medien lenken und damit Einfluss auf den öffentlichen Diskurs nehmen. Der Religionswissenschaftler Michael Blume spricht auch von Verschwörungsglaube, weil die Anhänger*innen die Vorstellung einer Verschwörungspyramide tradieren und an deren Spitze stehen dann die übermenschlichen Superverschwörer 👽. In einem Artikel über Verschwörungsglauben bezieht sich Michael Blume auf eine Untersuchung des US-Psychologen Rob Brotherton (Suspicious Minds, 2015) und stellt Zusammenhänge zur Religionspsychologie her: „Zu seinem Erstaunen stellte der Forscher fest, dass die allermeisten Verschwörungsglaubenden gerade nicht von einer Welt ausgingen, in der eben verschiedene konkurrierende Verschwörerkreise miteinander um Einflussbereiche stritten. Stattdessen traf er immer wieder auf die Vorstellung einer Verschwörungspyramide, an deren Spitze übermenschlich begabte und manipulative Superverschwörer standen. Diese seien so genial, dass sie über Jahrhunderte hinweg nahezu fehlerfrei agieren und die "niederen" Verschwörergruppen kontrollieren, sie sogar gegeneinander ausspielen könnten. Und je nach religiös-weltanschaulicher Präferenz fanden sich an der Spitze dieser Pyramide dann eben die (seit Jahrhunderten erloschenen) Illuminaten oder die "Weisen von Zion", aber auch superreiche Wirtschaftseliten, Bilderberger, Außerirdische oder künstliche Intelligenzen (wie im Sciencefiction-Film "Matrix" von 1999).“ Dabei verdeutlicht Blume, dass der Verschwörungsglaube für alle Gruppen, religiöse und säkulare strukturell gleich sei: „Und tatsächlich weisen alle – sowohl die rechten als auch die linken und religiösen – Terrororganisationen die Gemeinsamkeit auf, dass sich ihre Anhängerinnen und Anhänger im Widerstand gegen eine "globale (Super-)Verschwörung" wähnen und vorgeben, letztlich in Notwehr zu handeln. Auch wenn sie den Glauben an ein höchstes, überlegenes Prinzip oder eine allmächtige Gottheit bekunden, so glauben sie doch, dass finstere Superverschwörer das Weltgeschehen bestimmten.“ Blume, Michael: Meinung: Verschwörungsglaube ist ein religiöses Problem, in: Spektrum. 08.08.2016 https://www.spektrum.de/kolumne/meinung-verschwoerungsglaube-ist-ein-religioeses-problem/1418857 Eine Verbindung auf struktureller Ebene zwischen Religiosität und Verschwörungstheorien konstatiert auch der Psychologe Sebastian Bartoschek: „[L]etztlich funktioniert Religiosität nach denselben strukturellen Prinzipien wie Verschwörungstheorien. Es wird Ihnen eingetrichtert, vor jemandem Angst zu haben. Und gleichzeitig wird Ihnen eine Lösung angeboten, um die Angst in den Griff zu kriegen. Meistens erscheint die Lösung in Form von zwei Versprechen: Das Versprechen nach Gemeinschaft und jenes nach Erlösung.“ "Religiosität und Verschwörungsglaube funktionieren nach denselben strukturellen Prinzipen“ Wie analysiert ein Psychologe den Reiz von Verschwörungstheorien? Wie erklärt er, dass Menschen sich mit Verschwörungstheorien identifizieren? Ein Interview mit Dr. Sebastian Bartoschek, in: arte. 07.09.2017 https://info.arte.tv/de/religiositaet-und-verschwoerungsglaube-funktionieren-nach-denselben-strukturellen-prinzipen Eine begriffliche Differenzierung zwischen Verschwörungstheorie und Verschwörungsglaube wird von Thomas Grüter vertreten: Der Verschwörungsglaube umfasst hier einen „Verdacht gegenüber einer als feindlich oder böse empfundenen Gruppe. […] Der Verdacht manifestiert sich dann in Ereignissen, die als Bestätigung des Glaubens gewertet werden.“ Wenn diese Verdachtsmomente ‚ausgearbeitet‘ und in einen größeren Kontext überführt werden, spricht Grüter von Verschwörungstheorie. Der Verschwörungsglaube stellt in diese Sinne die Grundlage der Versicherungstheorie dar. Was ist eine Verschwörungstheorie und wann ist ein Verschwörungsverdacht glaubwürdig? Eine Diskussion mit Thomas Grüter über Verschwörungstheorien und reale Verschwörungen, in: Telepolis. 06.09.2012 https://www.heise.de/tp/features/Was-ist-eine-Verschwoerungstheorie-und-wann-ist-ein-Verschwoerungsverdacht-glaubwuerdig-3395562.html Ja, vor allem seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist die Bezeichnung Verschwörungstheorie ganz schön in die Kritik geraten. Wie ich das sehe, gibt es zwei Kritikpunkte: 1. Das Wort solle nicht verwendet werden, weil es negativ konnotiert sei und es ein sogenanntes Stigmawort darstelle, mit dem jegliche Äußerungen, die nicht der eigenen politischen oder wissenschaftlichen Position entsprechen, diskreditiert werden können, und 2. weil es positiv konnotiert sei; denn es handle sich bei Verschwörungstheorien ja gar nicht um Theorien im wissenschaftlichen Sinne. Als alternative Termini werden zum Beispiel Verschwörungserzählung, Verschwörungsglaube, Verschwörungsideologie und Verschwörungsmythos genannt. Vgl. Friedemann, Vogel (2018): Jenseits des Sagbaren - Zum stigmatisierenden und ausgrenzenden Gebrauch des Ausdrucks Verschwörungstheorie in der deutschsprachigen Wikipedia. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 14, 259287. Link zu http://www.hempen-verlag.de/zeitschriften/aptum/aptum-band-14-2018-heft-3.html Link zu www.watson.de/deutschland/analyse/720825632-coronademos-hildmann-naidoo-verschwoerungstheorie-ist-das-falsche-wort) Aber ist es nicht einfach so, dass sich die Bedeutung eines Wortes aus seinem Gebrauch ergibt? In der Sprachwissenschaft geht man davon aus, dass Wortbedeutungen nicht einfach so - im luftleeren Raum - existieren, sondern dass die Bedeutung von Wörtern im Sprachgebrauch entsteht. Hierzu sagte bereits Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen Folgendes: „§10: Was bezeichnen nun die Wörter dieser Sprache? – Was sie bezeichnen, wie soll ich das zeigen, es sei denn in der Art ihres Gebrauchs? §43: Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Das Wort Verschwörungstheorie besitzt demnach (als nicht wissenschaftlich klar definierter Fachbegriff) in der Alltagssprache eine bestimmte Bedeutung (mit durchaus gewissen Konnotationen), die sich nicht einfach nur aus den Bedeutungen der beiden Bestandteilen Verschwörung und Theorie ableiten lässt, sondern die durch seine Kontexteinbettung bestimmt (Pragmatik), seine Verknüpfung mit anderen lexikalischen Elementen beeinflusst (Kookkurrenz) und seinen wiederholten Gebrauch historisch gewachsen ist (Konventionalisierung). Ja auf jeden Fall 👍 und er hat noch mehr Vorteile, die in dem Begriff "Erzählung" bzw. dem Erzählen verankert sind: Das Erzählen ist nicht nur universell und kulturübergreifend - so wie ja auch die Idee von Verschwörungen zu jeder Zeit und in unterschiedlichen kulturellen Kontexten auftreten -, sondern schließt auch fiktionale und faktuale Aspekte ein. Ein Charakteristikum der "Verschwörungstheorien" ist ja gerade, dass bestimmte Fakten herausgegriffen werden, aber dann in Zusammenhänge gebracht werden, die sich durch eine starke Komplexitätsreduzierung auszeichnen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen ergeben dann die vermeintliche Verschwörung. Der Begriff "Erzählung" schließt also beide dafür konstitutive Komponenten ein. Esra Vgl. exemplarisch: Nünning, Ansgar: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie, in: Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript 2014, S. 15-54.; Fludernik, Monika/Falkenhayner, Nicole/Steiner, Julia (Hrsg.): Faktuales und fiktionales Er-zählen. Interdisziplinäre Perspektiven. Würzburg: Ergon 2015; Breitenwischer, Dustin/Häger, Hanna-Myriam/Menninger, Julian (Hrsg.): Faktuales und fiktionales Erzählen II. Geschichte - Medien – Praktiken. Ergon 2020. Chantal Schaut mal, ich habe auf Twitter die Aktivität des Wortes "Verschwörungstheorie" untersucht. Also alle Tweets der letzten Tage, in denen "Verschwörungstheorie" vorkommt. So können wir sehen, wie sich der Diskurs auf Twitter verhält. Chantal ***** Chantal Hier ist eine Netzwerk-Analyse der Daten. Chantal Es scheint so, als wenn einige wenige User die Diskussion auf Twitter dominieren. Das finde ich interessant. Das gleiche passiert, wenn ich mir die Akteure aus dem Rezo Video anschaue, also "rezomusik OR altenbockum OR TeamKenFM OR jreichelt". Spannend auch, welche Begriffe da in diesem Kontext verwendet werden, denen man im Alltag eigentlich nicht so häufig begegnet. Chantal Ich komme nochmal auf Twitter zurück: um Tweets von Leuten zu kriegen, die an Verschwörungstheorien glauben (und ihre Ansichten daher eher nicht als "Verschwörungstheorie" bezeichnen werden), ziehe ich Tweets, welche die Keywords "covid OR corona wahrheit OR schwindel" enthalten. Das gibt mir die allgemein gängigsten Verschwörungstheorien. Spezifische Theorien kriege ich mit "covid OR corona 5g OR gates OR soros". Wie beim Keyword "Verschwörungstheorie" sind es wenige User, die die Diskussion führen. Aber es sind andere User! Auf Twitter scheinen die Diskussionen getrennt geführt zu werden. Verschwörungstheoretiker selbst benutzen ja eher Keywords wie "Maulkorb" um die Maskenpflicht zu thematisieren, oder spezifische Hashtags wie "widerstand2020 OR coronarebellen OR coronahoax OR coronawahnsinn". Die gucke ich mir auch an. Hier das gleiche Phänomen: Die Diskussion wird von ganz anderen Usern geführt, als die Diskussion um Rezos Video oder das Wort Verschwörungstheorie. Chantal Ich fände es eine interessante Fragestellung, ob sich die Twitter-Netzwerke auch in ihrer Struktur unterscheiden - nicht nur in den Usern, die sie führen. Eine spannende wissenschaftliche Frage wäre, ob Kennzahlen für die Informationsverteilung (z.B. Betweenness Centrality, Closeness Centrality oder Degree Centrality) signifikante Unterschiede in den verschiedenen Netzwerken aufweisen. Eine andere Frage ist, ob die Topologie der Netzwerke signifikante Unterschiede aufweist -- zum Beispiel deren persistente Homologie. Ja, okay. Ich finde, "Verschwörungserzählung" auch nicht schlecht, weil er nochmals eine andere Perspektive eröffnet. Aber Verschwörungstheorie ist in der Wissenschaft der gängigere Terminus. Vielmehr noch: Er wird in der deutschen Forschung mit Abstand am häufigsten verwendet. Darüber hinaus spricht man auch in der angloamerikanischen Forschung von „conspiracy theories" z.B. 👉 Hepfer, Karl (2015): Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Bielefeld. 👉 Raab, Marius/Carbon, Claus-Christian/Muth, Claudia (2017): Am Anfang war die Verschwörungstheorie. Berlin. 👉 Butter, Michael (2018): "Nichts ist, wie es scheint". Über Verschwörungstheorien. Berlin. 👉 Nocun, Katharina/Lamberty, Pia (2020): Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. Köln. 👉 Prooijen, Jan-Willem van (2018): The Psychology of Conspiracy Theories. New York. 👉 Butter, Michael/Knight, Peter (eds.) (2020): Routledge Handbook of Conspiracy Theories. New York.: . Aber Pia Lamberty, die du hier anführst, spricht in diesem Zusammenhang übrigens auch von Verschwörungserzählungen und -mythen. Esra Vgl. u.a.: „Das Virus ist unsichtbar, der Verschwörer wirkt greifbar“ Interview Pia Lamerty, in: mdr aktuell. 07.05.2020 https://www.mdr.de/nachrichten/politik/gesellschaft/psychologie-verschwoerung-interview-pia-lamberty-100.html. Corona: „Ideale Bedingungen für Verschwörungserzählungen“. Verschwörungserzählungen gibt es schon lange, in der Coronakrise haben sie aber Hochkonjunktur. Eine Psychologin erklärt, was Menschen antreibt, die diese Geschichten verbreiten - und warum manche sie glauben. In: NJOY vom NDR 12.05.2020 https://www.n-joy.de/leben/Corona-Ideale-Bedingungen-fuer-Verschwoerungserzaehlungen,verschwoerungserzaehlungen100.html. Marcel Welchen weiteren Vorteil hätte denn der Begriff Erzählung? Besonders den Aspekt der Konstruktion: Erzählungen stellen Zusammenhänge her, sie sind eine Form der Wirklichkeitsaneignung, indem sie die Welt auf eine spezifische Weise ordnen. In den Verschwörungserzählungen wird ja auch eine spezifische Weltsicht propagiert, zum Beispiel, dass es keine Zufälle gibt. Alles wird in eine große, zusammenhängende Erzählung integriert. Esra Vgl. zu dieser Funktion der Konstruktion: Martin Huber: Grundlagen und Funktionen, in: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Hg. v. Martin Huber und Wolf Schmid. Berlin/Boston: de Gruyter 2018, S. 3-12. „Erzählen, das heißt, mit Sprache die Welt zu ordnen, Zusammenhänge herzustellen und zu deuten, von Veränderungen zu berichten. Dies reicht von kleinen Geschichten, mit denen wir alltäglich Informationen austauschen und unsere Identitäten konstruieren, bis hin zu den Erzählungen, mit deren Hilfe Gesellschaften ihre soziale wie politische Ordnung herstellen und stabilisieren (Müller-Funk 2008 [2002]).“ (Martin Huber: Grundlagen und Funktionen, S. 3.) „Bereits die Herkunft des Wortes im Deutschen verweist auf die ordnende Grundeigenschaft von ‚erzählen‘. Das mittelhochdeutsche Verbum erzellen bedeutet ursprünglich „‚aufzählen‘, dann in geordneter Reihenfolge hersagen, berichten“ (Kluge [1999], 233). In diesem Sinn bildet Erzählen eine elementare Ordnungsleistung im Alltag. Zugleich macht das Erzählen es möglich, einzelne Begebenheiten aus dem Alltag herauszuheben und über die Form der Erzählung als Erfahrung zu generalisieren. Über den gewöhnlichen Ablauf unseres Alltags sprechen wir nicht ausführlich, erst eine Unterbrechung der Routine, ein außergewöhnliches Vorkommnis, ein Ereignis, bringt uns zum Erzählen.“ (Ebd.) „Erzählen ist eine eigenständige Form der Wirklichkeitsaneignung und geht rein beschreibenden und systematischen Verfahren voraus. Erzählen impliziert dabei einen Akt der Sinnbildung, in dem wir nachträglich für an sich ‚sinnlose‘ kontingente Ereignisse eine sinnhafte Abfolge und eine Kausalität als strukturierte Begebenheit konstruieren. Warum das so ist, wissen wir nicht. Sicher ist jedoch, dass Menschen die sie umgebende Welt zunächst durch Geschichten, also erzählend, erklärt haben, bevor sie begonnen haben, systematisch und ‚wissenschaftlich‘ zu denken. Am Anfang stand der „Mythos“, die ‚Erzählung‘, für Aristoteles die durchaus sinn- und effektgesteuerte „Zusammenfügung von Handlungen“ (Poetik 1450a). Die Konfrontation mit Zufall und Komplexität wird von uns Menschen immer wieder über die Form der Erzählung, also einer deutenden Repräsentation, in eine Ordnung überführt. Offenbar gibt es einen übergeordneten Zusammenhang zwischen Erfahrung und Erzählen, über den der Prozess der Sinnbildung anthropologisch verankert scheint und dem Erzählen ein bestimmtes Set an Funktionen zuweist.“ (Ebd., S. 4.) „Die Fähigkeit, kontingente Welterfahrungen durch Geschichten in eine verständliche und im Alltag sinnfällige Erzählung zusammenzufassen, charakterisiert den Menschen – Walter Fisher (1987) hat dafür die Formel homo narrans geprägt. Wir haben die Fähigkeit, man könnte auch sagen: den kognitiven Zwang, Informationen als Teile einer zeitlichen Ereigniskette im Sinne einer vollständigen und sinnhaften Erzählung zu deuten und das bloße zeitliche Nacheinander mit einer kausallogischen Motivierung zu unterlegen.“ (Ebd. „Wird Erzählung als politisches Instrument eingesetzt, soll zumeist gerade die Möglichkeit zur alternativen Erzählung überdeckt werden. Die Erzählung zur politischen Sinnstiftung erbringt eine besondere Syntheseleistung, verbindet Intellekt und Gefühl, sie liefert dem Verstand eine Erklärung der Welt, weckt zugleich aber auch Emotionen. Mit einer narrativen Struktur, die per se Kohärenz erzeugt, lassen sich Widersprüche integrieren und Disparates als Zusammenhang darstellen. Wo politische Programme und Theorien systematisch und schlüssig argumentieren müssen, kann ein politischer Mythos Widersprüche etwa zum Charaktermerkmal der politischen Führung, oder eines Volkes erklären“. (Ebd., S. 7.) Marcel Wie kommt das? Das hat auch etwas mit dem Konnex von Erzählen und Wissen zu tun. Wissen wird ja gerade durch Erzählungen hervorgebracht. Dieser Zusammenhang wurde ja auch schon in verschiedenen Disziplinen ausgeführt und fruchtbar gemacht (Geschichtswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Gedächtnisforschung usw.) Erzählungen sind darüber hinaus sinnstiftend, ein Merkmal, das gerade auch im Kontext der Verschwörungserzählungen zum Tragen kommt: Die Welt wird hier ja in Gruppen eingeteilt, die die Zusammenhänge und damit die Verschwörung sehen und verstehen und der Rest, der dies nicht sehen kann oder will oder eben an der vermeintlcihen Vertuschung aktiv beteiligt ist (Stichwort: Mainstreampresse, Politik, Bill Gates etc.). Esra Vgl. zur Funktion der Sinnstiftung von Erzählungen: Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2. überarb. und erw. Auflage. Wien: Springer 2008; vgl. zum Konnex von Literatur und Wissen die zahlreichen Arbeiten von Joseph Vogl zur Poetologie des Wissens; vgl. exemplarisch auch: Formen des Wissens. Epistemische Funktionen literarischer Verfahren. Hg. v. Graduiertenkolleg literarische Form. Heidelberg: Winter 2017; Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Hg. v. Arne Höcker, Jeannie Moser, Philippe Weber. Bielefeld: transcript 2006. „Die Entstehung von Wissen ist damit mit einer geradezu ‚künstlerischen Kreation‘ von Zeichen, Symbolen und Erzählungen verbunden. Und ‚Forschen‘ bedeutet das originelle Hervorbringen und Konfigurieren von Modellen, Beschreibungsmethoden, kategorialen Bestimmungen, Anordnungsweisen und Begrifflichkeiten. Als unverzichtbare Strategien kommen in diesem Prozess poetische Verfahren wie Narrativierung und Figurierung zum Einsatz.“ (Moser, Jeannie: Poetologie | Rhetoriken des Wissens, Einleitung, in: Wissen. Erzählen. S.12) „Sie [Poetologie und Rhetorik des Wissens] verfahren anhand der Prämisse, dass literarische Strategien und Praktiken der Darstellung bei der Generierung jeglichen Wissens zur Anwendung kommen. Nicht also die Auffassung der Philologie als einer Metadisziplin, auch nicht die Annahme eines höheren Wahrheitsgehaltes von Literatur, sondern die skizzierten Vorüberlegungen bilden den Horizont, vor dem davon auszugehen ist, dass Wissen durch einen fortgesetzten Austausch von kulturellen Zeichen, rhetorischen Figuren und narrativen Strukturen entsteht.“ (Ebd., S. 13) Was ich persönlich an dem Rezo-Video auch interessant finde, ist sein Umgang mit Quellen. Juan Marcel Mit den Quellen geht er doch aber sehr transparent um, oder nicht? Permanent werden eine Art von Kurzzitaten im Video eingeblendet und die sind in einem unter dem Video verlinkten Dokument alle aufgelöst. Das ist doch richtig wissenschaftlich gemacht! Auf den ersten Blick schon, aber er hat ja doch eine etwas andere Auffassung von "Quellen" als beispielsweise die Geschichtswissenschaft. Juan Insgesamt scheint es, mit der Nennung seiner „Quellen“ distanziert sich Rezo einerseits von Verschwörungstheoretikern andererseits eben von der kritisierten Presse, die meist keine Quellen nennen und schon gar nicht so transparent zur Verfügung stellen. Die Auflistung der Quellen verleiht dem Video zudem einen wissenschaftlichen Anstrich, ist es doch das, was Wissenschaftler*innen tun, alle ihre „Behauptungen“ mit „Quellen“ belegen. Zumindest für die Geschichtswissenschaft, funktioniert das mit den Quellen aber doch ein bisschen anders. Eine Quelle ist innerhalb der Geschichtswissenschaft etwa definiert als „Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann.“ (Paul Kirn, Einführung, 1968, S. 29) Nach Hans-Werner Goetz sind historische Quellen „alle Zeugnisse (Überlieferungen), die über geschichtliche (= vergangene) Vorgänge (Abläufe, Zustände, Personen, Denk- und Verhaltensweisen) informieren“. (Hans-Werner Goetz, Proseminar, 2014, S. 92) Von den Quellen klar getrennt werden die Texte der Forschungsliteratur, auch Sekundärliteratur genannt. In solchen Texten sind Quellen die Grundlagen, auf Basis derer die Vergangenheit untersucht und rekonstruiert wird. Die wohl wichtigste Methode der Geschichtswissenschaft ist die Quellenkritik. Wenn die Quelle formal und inhaltlich erschlossen ist, das heißt in der Regel als Edition vorliegt, ist es die Hauptaufgabe des Historikers bzw. der Historikerin, die Quelle quellenkritisch zu untersuchen. Dazu gehört vor allem, die Zeit und den Ort der Abfassung herauszufinden, die Hintergründe zum Verfasser und zum intendierten Publikum zu eruieren. Im Kern also geht es darum: Wer schreibt wann, wo und für wen? Zudem interessiert die Überlieferung: Wie gelangte der Text bis in die heutige Zeit? Mit welchen anderen Texten ist er ggf. zusammen tradiert worden? In der Informatik (und Rezo hat Informatik studierst) werden, so wie Rezo es auch macht, Quellen (ganz egal ob Zeitungsartikel oder wissenschaftliche Veröffentlichung, historische Quellen gibt es im geisteswissenschaftlichen Sinne gibt es nicht) durchnummeriert und im Text auf diese Quelle mittels der Zahl verwiesen, wenn eine Idee ursprünglich aus dieser Veröffentlichung stammt. Zeitungsartikel werden eher zur Bestätigung der Relevanz oder zum Nachweis der Verwendung von Verfahren herangezogen. Nur wissenschaftliche Veröffentlichungen, die andere Wissenschaftler:innen geprüft wurden, gelten als korrekt und können zum (mathematischen) Beweis einer Behauptung herangezogen werden. Wörtliche Zitate oder die Nennung von Autor:innen im Text ist unüblich. Der Wortlaut spielt im Allgemeinen keine Rolle, solange die Aussage (mathematisch gesehen) die gleiche bleibt. Chantal Rezo zitiert da, wie Informatiker:innen das normalerweise tun. Das ist aber für dieses Thema wohl der falsche Weg, denn hier spielt der exakte Wortlaut und auch wer es gesagt hat - und nicht nur der Sinn - eine entscheidende Rolle. In der Informatik ist der "Sinn", bzw. wir sagen oft auch "Bedeutung", nämlich oft eindeutig definiert und die Darstellung zweitrangig. Da hätte er sich mal besser über andere Disziplinen informieren sollen! Er schert alle seine Quellen über einen Kamm; er betreibt überhaupt keine Quellenkritik. Es wird nicht differenziert zwischen dem Ergebnis eines längeren Forschungsprozesses, an dem ggf. mehrere Personen beteiligt waren, und einer schnell herausposaunten Meinung auf Twitter oder in einer Kommentarspalte. Bei vielen Webseiten ist in keiner Weise klar, vor welchem Hintergrund diese agieren, wer die Autor*innen sind, wie sie finanziert werden. Zudem verhindert die schiere Masse an Quellenangaben, mehr als 250 Links sind in dem Dokument angegeben, dass man diese, wenn man nicht seinen Jahresurlaub dafür aufwenden will, wirklich einzeln zur Kenntnis nehmen kann. Und im Grunde hat dies dann schon fast denselben Effekt wie die von Rezo genannte Art der Verschwörungstheoretiker und bestimmter „Presseorgane“, Quellen zu verschleiern anstatt sie transparent zu machen. Die Vorgehensweise passt zu der Art von Aussage, die er zeigen will, einfach nicht. Juan Chantal Ich finde es aber trotzdem gut, dass er jede Herkunft einer Aussage angibt, ansonsten kann man sich selbst kein Bild davon machen. Mich stört auch an namenhaften Zeitungen, dass keine Links zur Originalquelle/-studie angeben werden. Nun ja, zum Beispiel könnte man aus der Masse an Beispielen die eindrücklichsten und prägnantesten auswählen. Diese könnte man dann wirklich einordnen und im Sinne der Quellenkritik befragen. Mindestens aber müsste die Liste der „Quellen“, die Rezo zur Verfügung stellt, um kurze Informationen zu den einzelnen Links angereichert werden und ggf. auch nachvollziehbar geordnet sein, also im Sinne eines echten Quellenverzeichnisses. So wie das „Verzeichnis“ jetzt aufgebaut ist, suggeriert es zwar Transparenz und Wissenschaftlichkeit, kann diese aber dann für diejenigen, die sich wirklich tiefer mit dem Thema beschäftigen wollen, nicht einlösen. Juan Chantal In der Informatik spielt es übrigens auch keine Rolle, wer etwas geschrieben hat oder warum und auch in Veröffentlichungen nicht diskutiert, wir nennen nicht Mal die Namen der Autor:innen. An vielen Stellen scheint es für mich, dass wir Idee und Autor:innen zu trennen versuchen. In diesem Kontext, geht das aber ja nicht, da stimme ich dir voll zu. Wie hättest du es denn stattdessen gemacht? Wie sieht es denn mit den Quellen aus, auf die sich Verschwörungstheoretiker*innen beziehen, dort wird doch auch stark mit Quellenmaterial gearbeitet? Marcel Ja, so scheint es zumindest. Entscheidend ist aber der Umgang mit Quellen - also denen, die bestärkend herangezogen werden, weil sie in die eigene Theorie bzw. Erzählung passen, und jenen, die weggelassen oder als 'Lügen' verworfen werden. Über die Qualität von Quellen wird damit nichts ausgesagt. Wenn es in die eigene Weltsicht passt, kann alles zur 'Quelle' werden, egal ob dies nun auf eine faktisch verifizierbare Aussage zurückgeht oder auf ein Meme, die irgendjemand in die Welt gesetzt hat und frei zurkuliert. Chantal Der Aspekt des Ursprungs scheint mir wichtig zu sein. Lassen sich darüber nicht wichtige Unterscheidungen treffen? Marcel Ja, das würde ich so sehen. Zum einen im Umgang mit Quellen als Ursrpüngen von 'Informationsketten', aber auch in der Behauptung von Ursprüngen, die ja der Kern von Verschwörungsmythen ist. Ist der Verschwörungsmythos denn nicht dasselbe die Verschwörungserzählung? Zumindest habe ich den Eindruck, dass dies in journalistischen Texten häufig der Fall, z.B. https://taz.de/Biolaeden-und-Verschwoerungstheorien/!5689116/ ist. Esra Der Versuch, Verschwöungsmythen zu bestimmen, ist wiederholt unternommen worden. Geoffrey T. Cubitt etwa unterscheidet Theorie und Mythos; er versteht unter einer Verschwörungstheorie die konkrete Erscheinung eines komplexen und allgemeineren Verschwörungsmythos. Mythos bezeichnet bei ihm also den Hintergrund einzelner Behauptungen bzw. Erzählungen (vgl. Geoffrey T. Cubitt: Conspiracy Myths and Conspiracy Theories. In: Journal of the Anthropological Society of Oxford 20 (1989), S. 13–17.) Auch Armin Pfahl-Traughber unterscheidet den Verschwörungsmythos, allerdings von Verschwörungshypothesen und Verschwörungsideologien. Er skaliert diese Phänomene (Hypothese - Ideologie - Mythos), sodass der Mythos die Extremform darstellt. Er speist sich im Unterschied zu den anderen beiden Typen daraus, dass er von imaginären Verantwortlichen ausgeht, sich Kritik verweigert und für Gegenbeweise nicht zugänglich ist. Der Verschwörungsmythos kommt bei ihm ohne empirische Grundlage aus; ist daher 'immun' gegen unwillkommene Einwände und nicht korrigierbar. (Armin Pfahl-Traughber: „Bausteine“ zu einer Theorie über „Verschwörungstheorien“. Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen und Ursachen, in: Helmut Reinalter (Hrsg.): Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung. Innsbruck 2002, S. 30-44.) Marcel Nicht zwangsläufig, das kommt auf die Funktion der Erzählung an. Der Mythos ist eher eine besondere Form des universellen Prinzips 'Erzählen', dessen Funktionen von anderen Erzählweisen nicht unbedingt erfüllt werden. Vernwendet man Theorie und Mythos synonym, dann wird die besondere Leistung des Mythos wird dort nicht berücksichtigt Welche wären das denn, und welche Rolle spielen sie in Verschwörungserzählungen? Marcel Der Mythos setzt sich selbst als Ursprung. Er erzählt von den Anfängen der Schöpfung, wie wir es aus den griechischen oder nordischen Mythen kennen, warum in der Welt dieses oder jenes so ist und nicht anders, aber auch wohin alles irgendwann führen wird. Also leisten Mythen damit etwas, was anders gar nicht oder zumidnest nicht so leicht zu bestimmen ist, also definitive Ursprünge zu bestimmen und genau zu sagen, wer warum wie handelt? Marcel ja, genau. Ich verstehe Mythos mit dem Philosophen Hans Blumenberg (Arbeit am Mythos) als Ermächtigung des Menschen über eine unbegriffene und unbeherrschbare Umwelt durch Erzählung. Als eine Art der Inkompetenz-Kompensation. Blumenberg sieht die Angst als Ausgangspunkt des Mythos, den "unbesetzten Horizont der Möglichkeiten dessen, was herankommen mag". Alles, was wir (noch) nicht oder zumindest nicht in dieser einfachen Form beantworten können, wird über solche Erzählungen verhandelt. Die Gegenwart wird dann bspw. als ein logisches Produkt der Vergangenheit begriffen, was es wiederum möglich macht, auch die Zukunft berechnen zu können. Zumindest dem Anspruch derer nach, die solche Mythen in die Welt setzen oder glauben!? Ich hätte da ja Zweifel an solchen Behauptungen von Kausalitäten. Esra Marcel Ja, definitiv. Dies aber gehört zum Wesen des Mythos. Er erklärt nicht nur unbegriffene (Natur-)Phänomene, sondern stellt auch menschliches Handeln unter dieselbe Prämissen. Er behauptet also Kausalität dort, wo eigentlich Kontingenz herrscht. Lässt sich das vielleicht konkretisieren? Marcel Corona und die damit verbundenen Unsicherheiten und Einschränkungen eignen sich vielleicht als Beispiel. Denn es haben ja einige 'Theoretiker' große Beachtung gefunden, die im Unterschied zu Virologen und anderen Expert*innen immer ganz klar sagen konnten, was es mit Corona auf sich hat, wer dahintersteckt und welche Ziele damit verbunden sind. Chantal Das klingt stark nach der Theorie von der 'jüdischen Weltverschwörung', oder? Marcel Jedenfalls ist sie nicht weit davon entfernt, und steht tatsächlich im Hintergrund vieler Verschwörungserzählungen die Behauptung, alles Übel in der Welt würde von jüdischen Interessen verursacht. Die Erklärung identizfiziert zugleich den Sündenbock, den es auszutreiben gilt. Es ist sozusagen die Blaupause vieler Verschwörungsmythen. Und der Mythos wäre dann der Versuch das als ewig-gültig darzustellen? Marcel Ja, das gehört zu seinem Anspruch. Chantal Warum aber braucht es dann so viele Wiederholungen? Die aktivsten Verbreiter solcher Verschwörungsmythen erzählen doch nicht bloß einmal und warten dann auf die entsprechende Wirkung, sondern untermauern ihre Behauptungen immer wieder durch neue Zitate, Memes und Videos!? Marcel Das hat zum einen mit dem Kampf um Aufmerksamkeit zu tun. Einmalige Aussagen haben weniger Aussicht auf die erhoffte Resonanz. Wiederholung dient da nicht nur als Stärkung der bisherigen Argumente, sondern hämmert den Empfänger*innen immer wieder dasselbe ein, damit sie gar auf andere Kanäle umschalten oder sich von anderen Informationen irritieren lassen. Vor allem dann, wenn zum anderen es keine Klarheit gibt, dann sind solche mythischen Erzählungen offenbar für einige Menschen sehr attaktiv. Zumal es auf den Social Media-Plattformen oder den Chat-Gruppen direkt von den Wortführern selber kommt, ohne möglicherweise 'verfälschende' Vermittlung. DUm noch einmal auf Corona zurückzukommen - in der Pandemie zeigt sich jedenfalls das Potential von solchen Erzählungen, die Bedürfnisse stillen können, die auf anderm Wege unstillbar sind. Blumenberg spricht vom Nachteil des Logos, der Vernunft, dass nämlich auch „sehr gutes Wissen über Unsichtbares – wie Strahlungen oder Atome oder Viren oder Gene – der Furcht kein Ende [macht].“ Ist das nicht eine sehr pessimistische Perspektive? Esra Marcel Nicht unbedingt. Komplexität und Nicht-Wissen aushalten zu können, gehört natürlich dazu, um solchen Erzählungen nicht zu verfallen. Aber auch dann, wenn es andere Möglichkeiten gibt, diese 'Furcht' zu verbannen, durch politische Maßnahmen etwa, dann muss zumindest im Corona-Kontext der Mythos nicht das letzte Wort haben. Aber mit welchen Begriffen lassen sich denn Verschwörungen nun am besten beschreiben? Esra Ich denke, wir haben doch aus unseren jeweiligen Perspektiven aufgezeigt, warum es sinnvoll ist, diese Begriffe jeweils nach Kontext zu differenzieren und zur Präzisierung bestimmter Phänomene auch nebeneinander zu verwenden. Ja, das leuchtet mir ein. Trotzdem ist mein Eindruck, dass die hier genannten Begriffe im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs synonym - ohne Differenzierung - gebraucht werden. Ich fände es schön, das alles noch ausführlicher zu erörtern. Wäre es daher nicht passend, dies in einer Arbeitsgruppe aus interdisziplinärer Perspektive in der Jungen Akademie weiterzuführen? Esra Marcel Ja, auf jeden Fall! Wir können das ja besprechen, wenn wir uns beim nächsten JA-Treffen mal persönlich treffen?! ****
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